"Kerns Kraft"
Magazin „Junge Kunst 87“ Heft 02/2011:
Autor: Ulrich J. C. Harz
Sie sind ein Topos der Gegenwartsgesellschaft, der kellnernde Schauspieler und sein Kollege, der Taxi fahrende Künstler; 12. – 20.000 Euro Jahreseinkommen, mit MacJobs an Hartz IV knapp vorbei, Hungerkünstler eben.
Besser geht es der Species homo fotograficus. Selbst wenn die Fotokunst darbt, bieten sich Quereinstiege zur Presse- und Porträtfotografie, verdient der Knipser als rasender Fotoreporter oder als Hoffotograf, der auf allen Hochzeiten tanzt.
Wir sprechen nicht von Candida Höfer, Andreas Gursky, Boris Becker und anderen Foto-Millionären, sondern dem Künstler-Fotografen, der ein zweites Standbein für seine Existenz braucht und sei es auch die Werbung.
Vom Handwerk zum Kopfwerk
Zu Besuch bei Thorsten Kern. Der Kölner vom Jahrgang 68 hat die Ochsentour gemacht. Drei Jahre Fotografenlehre, Assi-Jobs, angestellter Agentur-Fotograf, seit 1997 selbständiger Fotograf mit allen Aufs und Abs, Frau und Kind, Atelier und Künstlersozialversicherung. Sein Hinterhausatelier in der bürgerlichen Hillerstrasse atmet nicht Düsseldorfer Chic, sondern Kölner Ehrlichkeit, die Location ist kreativ für Werbeleute und basic für Kunstfreunde, über dem Atelier wohnt ein Künstlerpärchen im luftigen Loft. Hier gelingt der tägliche Spagat zwischen Art und Art-Direction. Seit Michael Schirner sein Postulat „Werbung ist Kunst“ zwischen Buchdeckel gepresst hat, sind die Übergänge fließend geworden. Kern ist eher Künstler als Werber, Streetlook mit Jeans, Hemd, Cap, kein Werberschwarz, kein Markenkult. Dafür bedächtiges Auftreten, langsames Formulieren, eher Zurücknahme und Bescheidenheit. Thorsten Kern hat in den Jahren vor den Krisen begonnen als Stills-Fotograf, als einer, der Sachen fotografiert, keine Menschen. Auch die Kunst-Kerns sind konsequent menschenlos. Dafür kann er Verpackungen, Schmuck, Nahrungsmittel, Glas fotografieren als Objekte der Begierde. Stills-Fotografen sind der Typ Tüftler, Genauigkeitsfanatiker, Perfektionist, sie haben Zeit und keine nervenden Models um sich. Bezahlt werden sie wie alle Werbefotografen nach Tagessatz, ein Weltmeister wie Helmut Newton verlangte 50.000 $, einen Kölner Meister wie Thorsten Kern bekommt man schon für 1.800 €. Aber fast alle Agenturen handeln noch am Preis herum.
Knete, Kunst und Kommerz
Wie kommt der Kern zur Kunst? Ein Foto-Kunde, Werbe-Tycoon und New-Economy-Gewinnler kauft eine bombastische Villa, hat dann aber kein Geld mehr für Kunst an die Wände. Also ein typischer Kölner. Kern muss ran, große Formate müssen her. Es entstehen jene Formate, die später typisch werden, große Quadrate oder Trypticha mit drei Bildelementen im Format 20 x 200, das meisterliche Dom-Triptychon macht Kern in Köln weltberühmt, es hängt noch heute in seinem Atelier.
Kerns exzentrischer Blick ist irritatives Sehen. Für seine Projekte „Revisited“, „Geteiltes Land“ und „Geo“ geht er auf Reisen. Er zeigt Orte, die jeder kennt, aber so, wie sie noch niemand sah. Ob Atomium, Eiffelturm oder Buckingham Palace, die Vertrautheit des Bekannten schwindet und macht neuem Unbekannten Platz. Kern fordert von seinen Betrachtern einen Dreisprung: „Angucken. Ergänzen. Denken.“
Eines der Meisterwerke Kerns ist „Heim“ ein hoch verdichtetes Porträt des Guggenheim Museums. Als Kern hört, das Guggenheim interessiere sich für seine Arbeit, schickt er einen von 10 Abzügen nach Big Apple. Keine Antwort, keine Reaktion, kein Honorar. Aber Kern weiß aus sicherer Quelle, das Blatt hängt im Flur der Ex-Freundin von Guggenheim-Enkel Nicolas Helion. Die Wege der Kunstgeschichte sind unerfindlich.
Es geht um die Wurst
Für ein Kern-Original zahlen Sammler um die 3.000 Euro, das Masterpiece „Heim“ ist in einer 10 + 2E.A. verkauft und unter Kunstfreunden begehrt.
Kern nennt sein neues Thema Funktionsformen , Oberflächenansichten von industriell gefertigter Nahrung, von Massenprodukten für den Einheitsgeschmack, rund in der Form, groß im Format. Ob Schokolinse oder Fleischwurst, ob Hähnchenformfleisch oder Scheiblette, Kern zeigt die Oberfläche des Nahrungsmittels im Zeitalter seiner industriellen Reproduzierbarkeit. „Funktionsformen“ sind übrigens das letzte und aktuellste Kapitel einer Kern-Retrospektive, die am 15. Oktober auf Schloss Paffendorf ihre Tore öffnet.
Thorsten Kern hat mal 60% seines Lebensunterhalts mit Kunst bestritten, 40% mit Werbung, aktuell nimmt die Kunst gerade 10% ein, ist aber wieder deutlich im Aufwind. Solche Schwankungen kennt und akzeptiert der Künstler als Teil einer nicht eben bourgeoisen Existenz. Sie sind ein guter Grund für ein zweites Standbein. Müsste Kern wählen, würde er sich als Familienvater für die Werbung entscheiden, aber auch seine Vorbilder Chargesheimer und Elliot Erwitt waren Wanderer zwischen den Welten von Kunst und Kommerz. Kern sieht diesen Gegensatz völlig undramatisch, ihm gefällt der lakonische Erwitt-Ausspruch: „Wenn man Fotograf ist, fotografiert man eben.“
Aber dennoch hat der Künstler zwei Webseiten, unter www.kern-fotografie.de finden ihn die Werber, die Kunstfreunde gehen auf www.thorstenkern.com.
Nach 15 Jahren in parallelen Welten sieht Kern vieles abgeklärter, schätzt die Kunstwelt als brutaler ein als die Werbung:“ In der Werbung fragt Dich keiner, wo Du herkommst, was für Diplome Du hast, wenn Du kreativ bist, dann bist Du das eben. In der Kunstwelt zählt, von welcher Akademie Du kommst, welches Netzwerk Du dir aufgebaut hast. Und ich habe eben nicht Künstler gelernt.“ So sieht sich der Fotograf Kern zwischen den Polen der kunsthandwerklichen Arztgattin und dem Akademiekünstler als einer ganz ohne Kunstführerschein. Nach Ausstellungen in Hamburg, Brüssel und Duisburg bricht er jetzt zu bundesrepublikanischer Bekanntheit auf, nachdem er in Köln vor kurzem bei einer Ausstellung gehört hat: „Guck mal, das ist doch ein Kern.“
In der Kunst keine Kompromisse machen zu müssen kann man sich eben auch damit erkaufen, mal eine Fräulein Antje-Butter oder eine Sanella-Packung zu fotografieren.